Der autoritäre Charakter: Macht, Unterwerfung und die Angst vor Freiheit

Der autoritäre Charakter: Macht, Unterwerfung und die Angst vor Freiheit

Warum fühlen sich Menschen zu starken Anführer:innen hingezogen oder wollen selbst Kontrolle ausüben? Erich Fromm nennt das den autoritären Charakter – ein psychologisches Muster aus Angst, Unterwerfung und Dominanz. Es bietet eine vermeintliche Erleichterung: Wer sich nicht entscheiden muss, fühlt sich sicherer. Doch der Preis ist hoch: Man gibt Verantwortung ab und verliert sich selbst.

Zwei Gesichter der Macht

Fromm unterscheidet rationale und irrationale Autorität:

  • Rationale Autorität basiert auf Wissen und Vertrauen – wie bei Lehrer:innen. Sie fördert Eigenständigkeit, lässt Kritik zu und wird überflüssig, sobald das Gegenüber selbstständig wird.
  • Irrationale Autorität verlangt Gehorsam ohne Begründung. Sie schafft Abhängigkeit, duldet keine Kritik und basiert auf Hierarchie – wie im Verhältnis Herr:in und Sklav:in oder in totalitären Systemen.

Sadismus & Masochismus: Angst vor Freiheit

Fromm zeigt: Irrationale Autorität wirkt auch innen. Zwei psychologische Tendenzen greifen hier:

  • Masochismus: Wer sich schwach fühlt, sucht Halt bei etwas „Grösserem“ – einem Glaubenssystem, einer Anführer:in, einer Gruppe. Statt Freiheit wählt man Sicherheit durch Gehorsam.
  • Sadismus: Wer sich ohnmächtig fühlt, kompensiert das durch Kontrolle über andere. Macht verleiht scheinbare Stärke – ohne Rücksicht auf Werte.

Diese Muster treten oft zusammen auf: Der autoritäre Charakter unterwirft sich Stärkeren – und dominiert Schwächere. Eine Flucht vor der Freiheit, die Identität durch Macht ersetzt.

Autoritäre Dynamiken: Von der Geschichte bis heute

Im Mittelalter war Freiheit gering, aber Zugehörigkeit hoch. Mit der Aufklärung kam die „Freiheit von“ Zwängen – doch viele fühlten sich plötzlich orientierungslos. Totalitäre Systeme wie der Nationalsozialismus boten scheinbare Sicherheit durch Gehorsam und klare Feindbilder.

Auch heute ist diese Dynamik präsent:

Moderne Gesellschaften fördern Individualismus – aber auch Isolation. Die „anonyme Autorität“ zeigt sich in Werbung, Mainstream-Meinungen oder dem „gesunden Menschenverstand“. Menschen passen sich an, um nicht ausgeschlossen zu werden.

Populistische Führer wie Trump oder Influencer wie Andrew Tate bieten Klarheit, Macht und Zugehörigkeit in einer unübersichtlichen Welt. Aber auch radikale Gegenbewegungen – etwa in Form dogmatischer Gruppierungen oder ideologischer Kollektive (extremer Feminismus) – reproduzieren autoritäre Strukturen auf neue Weise. Ob in religiösen Sekten oder Verschwörungsgemeinschaften: Irrationale Autorität bleibt ein Fluchtpunkt vor dem Leben.

Freiheit wagen: Die eigentliche Herausforderung

Der autoritäre Charakter entspringt Ohnmacht, Einsamkeit und der Angst, frei zu sein. Doch genau diese Freiheit macht uns menschlich. Sie eröffnet Möglichkeiten – zur Selbstbestimmung, zur Begegnung, zur Mitgestaltung.

Wem folgen wir – und warum? Wo geben wir Verantwortung ab, um der Angst vor dem Leben zu entkommen?

Der autoritäre Charakter ist kein historisches Phänomen – er lebt weiter. In Systemen. In Strukturen. Und in uns selbst.